Akkord-Skalen-Theorie

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Die Akkord-Skalen-Theorie (englisch chord scale theory) wurde im Verlauf der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts als methodisches Konzept der Jazz- und Popularmusik entwickelt und ist seither zu einem grundlegenden Bestandteil insbesondere der Jazzharmonik und darauf aufbauender Improvisationsstrategien geworden. Die Grundannahme der Akkord-Skalen-Theorie (im Weiteren als AST abgekürzt), nach der Akkorde und Skalen eine funktionale Einheit bilden, beruht auf dem Umstand, dass sowohl Akkordtöne innerhalb einer Oktave in skalarer Aufeinanderfolge, d. h. horizontal, als auch Tonleitern vertikal als Terzschichtung darstellbar sind.

Ausgehend von der engen Wechselbeziehung, die zwischen Akkord und Skala besteht, beschreibt die AST das tonale Potenzial, das in einem Akkord bzw. in einer Akkordfolge liegt. Damit erhebt sie den Anspruch, Musikern eine Systematik zu bieten, Akkorden jeweils als „passend“ befundene Skalentöne zuordnen zu können und somit als Grundlage für das Improvisieren, Arrangieren und Komponieren zu dienen.

Die maßgeblich vom Berklee College of Music propagierte und weiterentwickelte Systematik und Terminologie der AST hat sich zu einem internationalen Standard für Jazz- und Popmusiker entwickelt.

Beziehung zwischen Akkord und Akkordskala

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In der Jazzharmonik wie in der AST dienen Septakkorde als Basisakkorde. Indem einem Septakkord drei weitere leitereigene Töne mit Terzabstand (9, 11, 13) hinzugefügt werden, entsteht ein Tredezimen-Akkord aus sieben Tönen. Die hinzugefügten Töne, sogenannte Tensions bzw. Spannungs- oder Optionstöne, hängen von der Stufe bzw. der dieser zugeschriebenen Funktion des Akkordes und damit von der Tonart ab. Der nunmehr siebenstimmige Akkord kann als Tonleiter dargestellt werden, indem die Akkordtöne der 9, 11 und 13 in den unteren Oktavraum projiziert werden (graue Pfeile):

Ionische Skale der 1. Stufe der C-Dur-Tonleiter

Durch die Projizierung der zuvor vertikal angeordneten Akkordtöne in den horizontalen Oktavraum entstehen die Akkordskalen der AST.

Die Akkordskalen der Stufenakkorde

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Da auf jeder der sieben diatonischen Stufe einer Tonart zunächst ein Vierklang, und aus diesem ein siebentöniger Tredezimen-Akkord gebildet werden kann, lassen sich in jeder Tonart auch sieben Akkordskalen konstruieren:

Septakkorde der Stufen der C-Dur-Tonleiter

Septimakkorde als elementare Stufenakkorde in C-Dur.[1]

So erhält man beispielsweise in C-Dur folgende Akkordskalen:

Stufe Dur C-Dur Akkordskala
I Imaj7 Cmaj7 C ionisch
II II-7 D-7 D dorisch
III III-7 E-7 E phrygisch
IV IVmaj7 Fmaj7 F lydisch
V V7 G7 G mixolydisch
VI VI-7 A-7 A äolisch
VII VII-7(b5) B-7(b5) B lokrisch

Funktionen der Stufenakkorde

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Die Akkordskalen sind nicht nur mit ihren jeweiligen Stufenakkorden verknüpft, sondern auch mit deren mehr oder weniger eindeutig assoziierbaren Akkordfunktionen. Dabei schreiben die Lehrwerke zur Jazzharmonik den einzelnen Akkorden[2] zumeist folgende, aus der Funktionstheorie entlehnte Akkordfunktionen zu:

Stufe Dur C-Dur Funktion
I Imaj7 Cmaj7 Tonika
II II-7 D-7 (Subdominante)
III III-7 E-7 (Tonika)
IV IVmaj7 Fmaj7 Subdominante
V V7 G7 Dominante
VI VI-7 A-7 (Tonika)
VII VII-7(b5) B-7(b5) (Dominante)

Tabelle der Akkordskalen und Septimakkorde aller Dur-Tonarten

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Die Skalen und elementaren Septakkorde der AST für alle Dur- und Molltonarten ergeben eine umfassende Systematik, die in der folgenden Tabelle anhand der Dur-Tonarten dargestellt wird. Man erkennt, dass in Dur jede Skala eindeutig ist. So ist beispielsweise die Akkordskala „C mixolydisch“ gleichbedeutend mit der fünften Stufe der Tonart F-Dur.

ionisch     dorisch     phrygisch  lydisch     mixolydisch äolisch     lokrisch   
I II III IV V VI VII
Imaj7 II-7 III-7 IVmaj7 V7 VI-7 VII-7(b5)
C Dur      Cmaj7 D-7 E-7 Fmaj7 G7 A-7 B-7(b5)
G Dur Gmaj7 A-7 B-7 Cmaj7 D7 E-7 F#-7(b5)
D Dur Dmaj7 E-7 F#-7 Gmaj7 A7 B-7 C#-7(b5)
A Dur Amaj7 B-7 C#-7 Dmaj7 E7 F#-7 G#-7(b5)
E Dur Emaj7 F#-7 G#-7 Amaj7 B7 C#-7 D#-7(b5)
B Dur Bmaj7 C#-7 D#-7 Emaj7 F#7 G#-7 A#-7(b5)
F# Dur F#maj7 G#-7 A#-7 Bmaj7 C#7 D#-7 E#-7(b5)
F Dur Fmaj7 G-7 A-7 Bbmaj7 C7 D-7 E-7(b5)
Bb Dur Bbmaj7 C-7 D-7 Ebmaj7 F7 G-7 A-7(b5)
Eb Dur Ebmaj7 F-7 G-7 Abmaj7 Bb7 C-7 D-7(b5)
Ab Dur Abmaj7 Bb-7 C-7 Dbmaj7 Eb7 F-7 G-7(b5)
Db Dur Dbmaj7 Eb-7 F-7 Gbmaj7 Ab7 Bb-7 C-7(b5)

Mit derselben Systematik werden die Skalen für die Stufen der natürlichen Molltonleitern zugeordnet, wobei die Stufe I-7 mit der Stufe VI-7 in Dur gleichgesetzt wird.

Musikalische Aspekte der AST

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Jede der Akkordskalen hat ihre eigene Klangfarbe. Entscheidend für den Sound der Skalen ist die Relation ihrer einzelnen Töne zu ihrem Grundton. Die Skalen sind klanglich eigenständig und sollten nicht mit einer Stufe oder Funktion gleichgesetzt werden. So kann mixolydisch auch ohne die Dominantfunktion in Dur existieren, wie z. B. im Blues als Tonika auf der I.Stufe.[3]

Qualitäten der Skalentöne

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Die AST ordnet die Töne einer Akkordskala drei je nach musikalischem Kontext unterschiedlich zu wichtenden Gruppen zu:[4]

  • Akkordtöne: Töne des Septakkords, der als Grundakkord die Harmonie repräsentiert.
  • Tensions: Zum Grundakkord hinzugefügte Töne, die spezielle Spannungen und Farben erzeugen.
  • Avoid-Töne: Töne, die in einem Akkord stark dissonant klingen.

Ästhetische Aspekte

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Bei Anwendung der AST kommt es nicht nur auf den Tonvorrat an, sondern auch auf die Funktion der einzelnen Töne innerhalb des Tonvorrates. Wenn man Akkordfolgen als horizontal aneinandergereihte Skalen denkt, hat jeder Skalenton eine Grundqualität. Er kann als Akkordton die Harmonie betonen oder als Tension für noch mehr Spannung sorgen. Ein und derselbe Ton kann bei einem Akkordwechsel eine andere Rolle übernehmen. Die Rollenverteilung der einzelnen Töne bzw. die Schwerpunktbildung der Rollen innerhalb eines Stückes hat einen entscheidenden Einfluss auf dem Gesamteindruck, den die Musik erzeugt.

Konzentriert sich ein Musiker zu sehr auf die horizontalen Elemente der AST, ohne ihre Beziehungen zu vertikalen Strukturen zu berücksichtigen, entsteht leicht der Eindruck eines ziellosen „Tonleitergedudels“. Wird zudem der Schwerpunkt auf die Tensions gelegt, besteht die Gefahr, dass der Hörer den Bezug zum Grundklang gänzlich verliert.[5]

Einzelnachweise

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  1. In der Jazztheorie werden die Akkorde wie in der Stufentheorie vom Grundton aufsteigend mit römischen Zahlen durchnummeriert.
  2. Die hier gewählte Schreibweise für Akkorde entspricht den angloamerikanischen Konventionen für Akkordsymbole. "-" steht für Moll, der Ton B für das deutsche H. Eingeklammerte Funktionsbezeichnungen sind mehrdeutig und daher in der funktionalen Deutung kontextabhängig.
  3. Frank Sikora: Neue Jazz-Harmonielehre. Verstehen – hören – spielen. Von der Theorie zur Improvisation 8. Auflage. Schott Music, Mainz 2012, ISBN 978-3-7957-5124-1, Seite 93
  4. Richard Graf, Barrie Nettles: Die Akkord-Skalen-Theorie & Jazz-Harmonik. Advance Music, Mainz 1997, ISBN 3-89221-055-1, ISMN 979-0-2063-0298-5 (Suche im DNB-Portal), Seite 17
  5. Frank Sikora: Neue Jazz-Harmonielehre. Verstehen – hören – spielen. Von der Theorie zur Improvisation 8. Auflage. Schott Music, Mainz 2012, ISBN 978-3-7957-5124-1, Seite 90